• In einer Zeit, in der weder Tage noch Stunden gezählt wurden und die Tiere
    des Waldes weder Pfeil noch Speer kannten, noch die Fische des Meeres
    Netz und Haken, wandelten die Götter von niemandem geehrt und unbeachtet
    auf Thêl Bor.

    Die Schöpfung

    Einer unter ihnen nannte sich Wadur, der Gott des Waldes und der Wiesen, und seine Gestalt war die eines kapitalen Hirsches. Er streifte durch die Wälder, fraß von den frischen Blättern und von neuer Rinde. Wenn ihn dürstete, ging er hin zu einem angrenzenden großen See. Auf diesem gleitete ein großer, weißer Schwan dahin, erhaben und voll Anmut. Anfangs nickten sie sich zu, aber beide gingen ihrer Wege. Dann schwamm der Schwan hin zu Wadur und stellte sich ihm vor. Es war Isa, die Göttin der Flüsse und der Seen, und sie unterhielten sich lange. Von da an trafen sie sich regelmäßig und ihre Unterhaltungen wurden länger und tiefer, denn beide stellten fest, wie viel sie doch verband. Das Wasser der Flüsse und der Seen speiste die Bäume und Gräser und
    die Bäume und Gräser gaben den Flüssen und den Seen Halt und Form.

    So verging etliche, nicht gezählte Zeit und schließlich verliebten Wadur und Isa sich ineinander. Sie verließen ihre Gestalt und stoben in den Himmel in göttlicher Vereinigung. Aus dieser Vereinigung entstand eine neue Form des Lebens. Doch Wadur und Isa glaubten, sich in den Wäldern vor den Augen der anderen Götter verstecken zu müssen. Daher streiften die Wesen ohne körperliche Gestalt als reine Gedanken durch die Wälder, ohne Aufgabe und ohne Ziel. Sie waren schwach, obwohl sie göttlichen Ursprungs waren und göttliche Macht in ihnen wohnte. Ihr einziger Sinn, den sie kannten, war, sich selbst zu mehren. Schließlich befiel sie eine Dumpfheit.

    Wadur und Isa aber sahen dies und Sorge erfüllte sie über den Zustand ihrer Kinder. Nachdem sie darüber beraten hatten, riefen sie all ihre Kinder zu sich und sprachen: „Die Zeit des Wanderns ohne Gestalt und Ziel endet nun. Wir geben euch die Aufgabe, Hüter der Natur zu sein und über sie zu wachen. Daher geben wir euch den Namen Eukarier, was bedeutet Hüter der Schöpfung. Des Weiteren geben wir euch Gestalt. Als Buche und Birke sollt ihr nun durch die Wälder gehen“, denn nichts anderes kannten Isa und Wadur als Bäume und Sträucher und Flüsse und Seen, doch Flüsse und Seen schienen nicht geeignet als Gestalt für ihre Kinder. Und sie sprachen weiter: „Damit ihr eure Aufgabe erfüllen könnt, erwecken wir die Macht, die in euch wohnt, weil ihr unsere Geschöpfe seid und damit göttlichen Ursprungs. Und wir nennen diese Macht Magie und ihr sollt sie nutzen zur Erledigung eurer Aufgaben.

    Dann entließen Wadur und Isa die Eukarier in ihr neues Leben. Diese nahmen Gestalt an und sahen aus wie Buche und Birke, Erle und Tanne. Fortan hegten sie Wald und Flur, Flüsse und Seen und die Jahreszeiten spiegelten sich in ihrer Seele und ihrem Aussehen.

    Wiederum vergingen ungezählte Zeiten und die anderen Götter betrachteten Wadurs und Isas Werk und zum ersten Mal zeigte sich Neid unter ihnen. Denn Wadur und Isa hatten ein Volk geschaffen, um dessen Wohlergehen sie sich kümmerten. Im Gegenzug begannen die Eukarier, Wadur und Isa zu danken und bauten ihnen Stellen, an denen sie ihnen Waldfrüchte und Quellwasser als Dank darbrachten. Im gleichen Maße, in der die Anbetung der beiden Götter stieg, nahm auch deren Macht zu und bald galten die beiden als die großen unter den Göttern. Dies jedoch führte nur zu noch mehr Neid und Argwohn.

    So kam es, dass Postos, der Gott des Meeres, und Ventaris, der Gott des Windes, miteinander sprachen: „Ist es nicht ungerecht, dass Wadur und Isa die Größten unter uns sein sollen? Wer sind sie, die Wald und Wiesen, Fluss und Seen beherrschen, denn gegen uns, die wir die Fluten des Meeres und die Stürme befehligen?“ Und sie sprachen weiter: „Lasst uns einen Teil ihrer Kinder nehmen und sie zu unseren machen. Denn auch wir benötigen Kinder, die uns anbeten und uns zu wahrer Größe verhelfen.

    Postos und Ventaris gingen in die Wälder, als Windhauch, der den Schaum des Meeres mit sich führte, unbemerkt von Wadur und Isa. Sie trafen die Eukarier und sprachen: „Seht, ihr wandelt als Baum und Strauch durch die Wälder, immer im Schatten der Bäume, deren Hirten ihr seid, doch nichts anderes als Diener der Bäume seid ihr. Wir aber bieten euch die Lüfte und die Weiten des Meeres.“ So sprachen sie und noch viel mehr.

    Da entschlossen sich einige, Wadur und Isa den Rücken zu kehren und mit dem Wind und dem Meer ein neues Leben zu beginnen. Die einen gingen mit Postos und er sprach zu ihnen: „Kiemen will ich euch geben im Gegenzug zu eurer Rindenhaut, damit ihr schwimmen könnt in meinem Meer wie ein Fisch.“ Da antworteten ihm die mitgekommenen Eukarier: „Postos, großer Gott, gerne wollen wir Kiemen haben und mit den Fischen schwimmen, aber ganz verzichten auf den Boden, auf dem wir stehen, wollen wir denn aber doch nicht.“ Postos konnte dem Ansinnen folgen und entschied: „Beides sollt ihr haben, Kiemen wie die Fische und Lungen wie die Lebewesen am Land. Und Land und Ozeane sollt ihr beherrschen. Doch haltet euch fern von den Wäldern, aus denen ihr ursprünglich kommt. Diese gehören den verbleibenden Eukariern. Euch werde ich Tellarer nennen, was so viel bedeutet wie das Neue Volk.“ Damit gab er ihnen zusätzlich Kiemen, nahm ihnen ihre Rindenhaut und warf sie ins tiefe Meer, damit sie schwimmen lernten.

    Die anderen, die sich von Wadur und Isa abwandten, gingen mit Ventaris hinaus auf freies Feld. Dort sprach Ventaris: „In den Wäldern seid ihr gewandert, habt die Brut der Vögel beschützt und sie dem Nest entfliehen sehen. Nun will ich euch selber den Vögeln gleich Flügel verleihen.“ Und als er dies sprach, formten sich an den Eukariern lederne Fluglappen, denn zu mehr war Ventaris zu dieser Zeit nicht imstande zu wirken. Da sprachen die Eukarier: „Oh Ventaris, den Flug der Vögel hast du uns versprochen, doch schau her, was uns anhaftet. Keine Federn, sondern Lappen wie bei den Fledermäusen. Das haben wir so nicht gewollt.“ Ventaris aber war erzürnt ob dieser Undankbarkeit und schrie: „Wie die Fledermäuse sind eure Flügel? Oh, so soll auch euer Antlitz dem entsprechen“, und versah die Anwesenden mit einem den Fledermäusen ähnlichen Gesicht. Da erschraken die Eukarier sehr und warfen sich auf den Boden und baten um Vergebung. Ob dieser Demut schwand der Zorn und Ventaris gedachte ihnen in Liebe eines Gottes: „Euer Äußeres werde ich euch nicht mehr nehmen, doch erhaltet im Ausgleich den Wissensdurst und Verstand, diese
    Welt zu regieren. Von nun an nennt euch Falconi, was so viel bedeutet wie ‚Die Herrschenden‘.“

    Dies geschah aber nicht unbeobachtet, denn Almaw, der arglistigste Gott auf Thêl Bor, sah versteckt diesem Treiben zu und entschied für sich: „Ich brauche die elendigen Kinder anderer erbärmlicher Götter nicht. Meine eigenen will ich schaffen.“ Er zog sich zurück und sinnierte lange darüber, wie dies zu geschehen hätte. Dann wirkte er seine göttlichen Kräfte und in der Erde rührte sich neues Leben. Er grub es aus und fand seine Erstgeborenen. Doch waren sie weder schön, noch edel, sondern klein und hässlich. Denn aus Argwohn entsteht keine Schönheit und aus Missgunst kein Edelmut. Damit waren die Alruns in der Finsternis der Erde geschaffen worden und ihr Geist war gering und ihre Gestalt verkümmert. Sie warfen sich auf den Boden, voller Angst und Demut, und beteten Almaw an. Er sprach zu ihnen: „Kein schönes Volk ist entstanden, doch will ich euch annehmen als meine Kinder und ihr sollt Alruns heißen und jagen gehen alle anderen Gotteskinder dieser Welt, ihnen zu nehmen ihr Hab und Gut und ihr Leben, auf dass, wenn ihr sterbt, euch ein weiteres geschenkt werden wird.“ Und die Alruns verteilten sich in der Welt und
    brachten Angst und Schrecken zu allen anderen Wesen Thêl Bors. Das war das erste Mal, dass die Kinder der Götter gegeneinander Hand anlegten.

    Regon, der Blinde, der Gott der Gerechtigkeit und Ordnung, betrachtete dies mit Sorge. Er streifte in seiner Form des Wolfes durch die Wälder und Wiesen sowie an den Flüssen und Seen entlang und sah, wie die Alruns die Kinder anderer Götter hinterlistig ermordeten. Da ging Regon zu Wadur und Isa und sprach: „Seht, andere Götter nahmen euch einen Teil eurer Kinder, um diese zu den ihren zu machen. Wiederum andere Geschöpfe, denn Kinder möchte ich sie nicht nennen, streunen durch eure Wälder und Wiesen oder lauern an den Ufern der Flüsse und Seen und töten eure Kinder nur um des Tötens willen. Ich aber will euch eure Kinder nicht nehmen, ich will um sie bitten, einen kleinen Teil eurer Kinder mögt ihr mir geben und ich werde aus ihnen
    große Jäger machen. Sie werden diese Kreaturen jagen, unerbittlich und groß und grausam sollen sie gegen eure Feinde sein. Aber großmütig und friedfertig erschaffe ich ihr Herz für alle anderen.“

    Da gaben Wadur und Isa einen kleinen Teil ihrer Kinder an Regon, dass dieser sie zu Jägern machen sollte. Und Regon formte neue Kinder aus ihnen, groß und von mächtiger Statur. Er sprach: „Geschaffen habe ich euch mit Einverständnis eurer Schöpfer, diesen seid ihr nach wie vor verpflichtet. Für mich aber übernehmt die Aufgabe des Jagens. Hierfür schenke ich euch eine zweite Gestalt, die ihr wählen könnt aus dem Bären, dem Wolf und dem Luchs. Und ich werde euch Beon taufen, was ‚Großer Jäger‘ bedeutet.“ Und damit entsendete er sie in kleinen Gruppen in die Welt, um die Alruns zu jagen und zu töten. Denn ihre Macht war der Gestaltenwandel, in der sie den Tod über die Geschöpfe Almaws bringen konnten.

    All das beobachtete Boreas, der Erbauer der Welt, und entschied, dass Regons kleine Schar den Massen an Almaws Kreaturen nicht Stand halten würde. Da ging auch er zu Wadur und Isa und redete mit ihnen: „Ihr seid die einzigen Götter, die aus Liebe heraus neues Leben erschaffen konnten. Doch euch wurden schon viele Kinder genommen und ich möchte nicht mehr verlangen.
    Doch schenkt der Welt die Zweitgeborenen durch eure erneute Vereinigung und ich gebe ihnen die Gestalt und einen Teil meiner Macht. Sie sollen euren Kindern beiseite stehen und an der Seite der Beons sollen sie gegen die Kreaturen Almaws kämpfen.“ Wadur und Isa sahen sich an und der Gedanke keimte auf und verlieh ihnen die Kraft einer zweiten Vereinigung. Dann gebar
    Isa die Zweitgeborenen und Boreas gab ihnen Gestalt. Er formte sie zwar klein, aber zäh und willensstark. Auf ihrer Haut zeichnete er seine göttlichen Runen, mit denen er ihnen die Magie schenkte, göttliche Macht in die Dinge dieser Welt zu weben. Bevor er sie aussandte, sprach er: „Ihr seid die mutigen Verteidiger unserer Welt. Steht allen anderen bei, schafft Recht und Ordnung, gebt Struktur und Halt. Sät, erntet und nährt diese Welt. Ich nenne euch von daher Kar, was ‚Mut‘ bedeutet.“ Und weiter führte er aus: „Die Tellarer beherrschen das Wasser, die Eukarierer die Wälder, den Beons gehört die Weite und den Falconi das Wissen. Euch Kars aber gebe ich die Erde und die Schätze, die in ihr schlummern. Geht nun und füllt diese Welt mit Leben.“

    Die Kars gingen und besiedelten alle Regionen, gaben ihnen Namen, säten, ernteten und ernährten alle Bewohner. Sie kämpften an der Seite der Beon und drängten die Alruns in die kargen Gebirge zurück.

    Das Gleichgewicht war nunmehr hergestellt. Die Götter sahen ihr Werk und wandelten zufrieden, jeder in seiner Gestalt, zwischen den Schöpfungen umher. Einer jedoch fehlte unter ihnen, denn dieser war von Neid zerfressen. Und in seiner Einsamkeit schmiedete er dunkle Pläne in der Finsternis.

    Auszug aus dem Buch der Mythen

    ...rauf, rauf, rauf, immer schön die Treppe rauf...

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